Bericht: Eva Weyl hat den Holocaust überlebt

08. Mai 2023

Zeitzeugin zu Gast in der Liebfrauenschule

„Vor 80 Jahren stand ich auf der Todesliste.“ Mit diesem Satz eröffnet Eva Weyl ihren Vortrag in der Kapelle der Liebfrauenschule Mülhausen. Die heute 87-Jährige ist Zeitzeugin aus einem düsteren Kapitel deutscher Geschichte. Sie hat den Holocaust überlebt. Die Jüdin lebte bis 1945 dreieinhalb Jahre im Durchgangslager Westerbork 50 Kilometer südlich von Groningen. Dort haben die Nazis 107.000 Juden, Roma und Sinti vor der Deportation ins Vernichtungslager Auschwitz gefangen gehalten. Nur 5000 von ihnen haben überlebt - darunter Eva Weyl.
„Wisst ihr, welcher Tag heute ist?“, fragt die in Arnheim geborene Niederländerin, deren Familie aus Deutschland stammt. Der Vater vom Niederrhein, die Mutter aus Freiburg im Breisgau, die Eltern Betreiber eines Geschäfts in Kleve, das die Nazis enteigneten. Viele der 120 zuhörenden Neuntklässler heben auf die Frage nach dem 8. Mai den Arm und melden sich. „Das ist der Tag der Befreiung“, antwortet eine 15-Jährige aus der Reihe direkt vor Eva Weyl. Jener 8. Mai 1945, der dem Zweiten Weltkrieg mit dem militärischen Sieg der Alliierten und der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in Europa ein Ende gesetzt hat. „Ja, genau. Und dieser Tag sollte in Deutschland ein Feiertag werden“, sagt die Zeitzeugin. Und fügt als Botschaft hinzu: „Bedenkt, wie wichtig Freiheit ist.“
Während der zwei Schulstunden, in denen Eva Weyl in der Kapelle mit auf Leinwand projizierten Bildern als Beleg ihrer Worte spricht, hört man in der Klosterkapelle die Stecknadel fallen. Die Liebfrauenschüler erfahren die Schrecken der Diktatur statt aus einem Geschichtsbuch von Angesicht zu Angesicht von einer Frau, die ab ihrem sechsten Lebensjahr dreieinhalb Jahre lang täglich dem Tod ins Auge geblickt hat.
Ihre Worte sind für viele der Jugendlichen unfassbar. Etwa die vom SS-Obersturmführer Gemmeker, dem Kommandanten von Westerbork. Unter ihm sind rund 80.000 Juden umgebracht worden. Gemmeker verkaufte später im Anschluss an eine zweijährige Haftstrafe bis zu seinem Tod 1982 in Düsseldorf Tabakwaren. Oder die von der Mutter, die die Brillanten der Familie in die Stoffknöpfe des Wintermäntelchens der kleinen Eva einnähte, was keinem NS-Schergen im Übergangslager auffiel, so dass die Edelsteine den Mördern entgingen. Oder ihre Schilderung, dass in Westerbork Kunst und Kultur gepflegt sowie Arbeit und Essen zur Genüge angeboten wurden, nur um die Häftlinge bei Laune zu halten und einen Zugtransport ins KZ ohne Meuterei sicherzustellen: Während solcher Berichte läuft es dem einen oder anderen Schüler kalt den Rücken runter.
Eva Weyl redet in Mülhausen aber nie verbittert, sondern immer mit versöhnlichem Unterton und humanitärem Appell. „Keiner von euch und auch nicht eure Eltern und Großeltern sind verantwortlich für Hitler. Aber ihr habt Verantwortung, indem ihr die Vergangenheit kennt und die Erinnerungskultur hochhalten könnt“, sagt die Holocaust-Überlebende, die seit langem in Amsterdam heimisch ist und fünf Enkelkinder hat.
Einen Brillantenring hat ihre Mutter ihr zum 60. Geburtstag geschenkt. Erst zu diesem Zeitpunkt erfährt Eva Weyl, dass sie alles Hab und Gut der Familie während ihrer Westerbork-Zeit in der eiskalten Baracke ganz nah am Herzen mit sich getragen hat. Der Ring wird nicht den Enkeln, sondern der Erinnerungskultur vererbt. Eva Weyl wird das kostbare Symbol der Freiheit dem Museum Herinneringscentrum Kamp Westerbork vermachen.

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